Der Holocaust ist nicht «unvorstellbar»

Heute vor 70 Jahren, am 27. Januar 1945, befreiten Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Im Interview legt Gregor Spuhler, Leiter des Archivs f¨¹r Zeitgeschichte der ETH Z¨¹rich, dar, wie das Archiv zum Gedenken an den Holocaust beitr?gt.

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Eduard Kornfeld (*1929) erz?hlt vor Sch¨¹lerinnen und Sch¨¹lern, wie er einen Todesmarsch ins Konzentrationslager Dachau und die Befreiung durch US-Soldaten erlebte. (Video: ETH Z¨¹rich/Archiv f¨¹r Zeitgeschichte)
Vergr?sserte Ansicht: Gregor Spuhler, Leiter des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich. (zvg)
Gregor Spuhler.

ETH-News: Eduard Kornfeld ¨¹berlebte den Holocaust. In einem Video-Mitschnitt, den das Archiv f¨¹r Zeitgeschichte am Holocaust-Gedenktag 2008 aufzeichnete, schildert er eindr¨¹cklich, wie er 1945 die Verlegung von Kaufering (bei Augsburg) ins Konzentrationslager Dachau ¨¹berlebte, und wie er sp?ter, nachdem die Amerikaner das Lager befreit hatten, nur dank sehr viel Gl¨¹ck nicht an einer Fehlern?hrung starb.
Gregor Spuhler: Das Bewusstsein, dass sie mit Gl¨¹ck ¨¹berlebten, ist bei Holocaust-?berlebenden in vielen F?llen sehr ausgepr?gt. Viele ¨¹berlebten als einzige ihrer Familie. So auch Eduard Kornfeld: Von den acht Mitgliedern ¨¹berlebten nur er und ein Bruder. Viele ?berlebende rangen ihr Leben lang mit der Frage, weshalb gerade sie das Gl¨¹ck hatten, zu ¨¹berleben und andere nicht.

Eduard Kornfeld war sowohl KZ-H?ftling in Auschwitz als auch danach in Dachau.
Ja, er wuchs in der Slowakei in Bratislava auf und versteckte sich mit seinem Bruder zun?chst in Ungarn. Dort wurde er 1944 verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Anschliessend brachte man ihn zur Zwangsarbeit in die Messerschmitt-Werke bei Augsburg und von dort nach Dachau, wo er 1945 die Befreiung durch US-Soldaten erlebte.

Inwiefern hatte er Gl¨¹ck, dass er ¨¹berlebte?
Er ¨¹berlebte, nachdem er auf einem Todesmarsch nach Dachau v?llig ersch?pft in einen Bus der Nationalsozialisten einstieg. In der Regel wurden KZ-H?ftlinge, die nicht mehr weiter marschieren konnten, erschossen. Aus unerfindlichen Gr¨¹nden passierte das nicht, sondern der Bus fuhr bis Dachau. Nach der Befreiung ¨¹berlebte er, weil er bloss eine halbe Portion Speck und Bohnen erhielt, w?hrend diejenigen, die eine ganze assen, daran starben. Ihre v?llig ausgehungerten K?rper ertrugen die von den US-Soldaten gut gemeinte, schwere Kost nicht.

Das Video entstand w?hrend einer Veranstaltung des Archivs f¨¹r Zeitgeschichte?
Von 2005, als der Holocaust-Gedenktag eingef¨¹hrt wurde, bis 2012 f¨¹hrte unsere ?Dokumentationsstelle f¨¹r J¨¹dische Zeitgeschichte? jedes Jahr Zeitzeugen-Anl?sse mit Schulklassen ab dem 10. Schuljahr durch. Die Zeitzeugen erz?hlten jeweils eine Stunde lang im Archiv von ihrem Schicksal und diskutierten dar¨¹ber mit den Sch¨¹lerinnen und Sch¨¹lern. Wir organisierten 27 Begegnungen, die wir alle in Ton und Bild aufzeichneten. Seit zwei Jahren bieten wir Schulklassen Workshops zum Themenkreis Holocaust/Zweiter Weltkrieg an. F¨¹r diese verwenden wir die Ton- und Video-Mitschnitte zusammen mit anderen Schriftquellen aus dem Archiv.

Was ist das Ziel dieser Begegnungen und Workshops?
Das Ziel ist es, die historischen Zusammenh?nge anschaulich zu vermitteln, indem die Zeitzeugen ihre individuelle Geschichte erz?hlen. Dadurch wollen wir heutige Generationen sensibilisieren, damit sich ein solcher planm?ssig umgesetzter V?lkermord nicht wiederholen kann.

Wie veranschaulichen die Begegnungen mit Zeitzeugen die Erinnerung an den Holocaust?
Wenn ein ?berlebender wie Eduard Kornfeld einer Schulklasse erz?hlt, wie er die Verfolgung w?hrend des Zweiten Weltkriegs erlebte, dann werden die historischen Ereignisse f¨¹r Sch¨¹lerinnen und Sch¨¹ler sehr realistisch, anschaulich und nachvollziehbar. Das ist uns wichtig, denn der Holocaust erscheint in der ?ffentlichen Diskussion zuweilen wie ein gigantisches, in seiner ganzen Gewalt aber unvorstellbares Ereignis. Eine solche Darstellung birgt die Gefahr einer Mythologisierung. Der Holocaust ist aber nicht ?unvorstellbar?. Man kann sehr real beschreiben, wie er die individuellen Leben von Millionen von Menschen aus den unterschiedlichsten Teilen Europas betraf, bedrohte und zerst?rte.

Worauf achten Sie in den Workshops mit den Schulklassen?
Wichtig ist, dass die Sch¨¹lerinnen und Sch¨¹ler von den Schilderungen der Holocaust-?berlebenden nicht einfach emotional ¨¹berw?ltigt werden, sondern auch Fragen stellen. Eine wichtige Frage, die regelm?ssig kommt, ist, wie Holocaust-?berlebende ihre schrecklichen Erfahrungen verarbeiten und in den Jahrzehnten nach dem Krieg wieder zu einem ¨C mehr oder weniger ¨C geregelten Familienleben finden konnten.

Und wie verarbeiten die ?berlebenden ihre Erfahrungen?
Konzentrationslager wie Dachau und Auschwitz erlebt zu haben, ist eine der schlimmsten menschlichen Erfahrungen. Keine Frage. Wie jemand eine traumatische Verfolgungserfahrung verarbeitet, h?ngt jedoch nicht allein von der ?usseren Gewaltanwendung ab, sondern auch von individuellen Faktoren.

Haben Sie im Archiv ein Beispiel daf¨¹r?
Wir haben einen Video mit einem ?berlebenden, der auf Todesm?rschen war und grausam misshandelt wurde. Die schlimmste Erfahrung war f¨¹r ihn jedoch, als er als 16-J?hriger mit der 20-k?pfigen Familie im Versteck sitzt und die Nationalsozialisten durchsuchen ihr Haus. Seine ?ltere Schwester hat ein Kleinkind, und wenn dieses schreit, w¨¹rden alle gefunden und deportiert. Deshalb deckt die Mutter das Baby zu und nimmt in Kauf, dass es erstickt ¨C was zum Gl¨¹ck nicht geschieht. F¨¹r jenen Jugendlichen war die Erfahrung, dass es den T?tern gelingt, die Opfer zu potentiellen M?rdern ihrer eigenen Kinder zu machen, weit schlimmer als alle k?rperliche Gewalt, die er im Lager erlitt.

Planen Sie im Archiv einen Gedenk-Anlass f¨¹r 2015?
Die Idee des Gedenktages ist wichtig, denn das heisst, dass sich die Gesellschaft mit Holocaust und V?lkermord und den Gr¨¹nden, die dazu f¨¹hrten, auseinandersetzt. Als Archiv haben wir 2013 mit den organisierten Zeitzeugenanl?ssen rund um den 27. Januar aber aufgeh?rt ¨C einerseits, weil die Zahl der Zeitzeugen, die noch Auskunft geben k?nnen, schwindet, anderseits, weil f¨¹r manche Schulklassen der Tag nicht gut zum Stunden- oder Lehrplan passte. Stattdessen bieten wir nun das ganze Jahr ¨¹ber Workshops f¨¹r Schulklassen an.

Sie haben auch schriftliche Dokumente im Archiv.
Ja. Neben Zeitzeugnissen k?nnen wir auch Schriftdokumente zeigen ¨C etwa Akten aus dem Archiv des Verbandes Schweizerischer J¨¹discher Fl¨¹chtlingshilfen, der damals ¨¹ber 20¡®000 j¨¹dische Fl¨¹chtlinge in der Schweiz betreute. Diese Akten werden wir bis Ende 2015 in Zusammenarbeit mit dem DigiCenter der ETH und dem Holocaust Memorial Museum Washington vollst?ndig digitalisieren. Dies erleichtert die Forschung, zumal wir aus der ganzen Welt Anfragen zu Fl¨¹chtlingen, die in der Schweiz ¨¹berlebten, erhalten.

Beitrag zur Dokumentation des Holocaust

Vergr?sserte Ansicht: Gabor Hirsch, Überlebender des NS-Vernichtungslagers Auschwitz, mit Schülerinnen und Schülern, Januar 2007. (Bild: ETH Zürich/Archiv für Zeitgeschichte)
Auschwitz-?berlebender Gabor Hirsch mit einer Schulklasse 2007. (Bild: ETH Z¨¹rich/Archiv f¨¹r Zeitgeschichte)

Das Archiv f¨¹r Zeitgeschichte der ETH Z¨¹rich sichert Schrift-, Ton- und Bilddokumente aus privatem Besitz zur Geschichte der Schweiz vom sp?ten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart und macht diese historischen Quellenbest?nde ?ffentlich zug?nglich.

Mit seiner Dokumentationsstelle J¨¹dische Zeitgeschichte schliesst das Archiv f¨¹r Zeitgeschichte eine L¨¹cke in der schweizerischen Archivlandschaft. Als Forschungsst?tte wider das Vergessen geh?rt es international zu den Archiven der Shoa und leistet im Verbund mit zahlreichen anderen Institutionen einen schweizerischen Beitrag zur Dokumentation des Holocaust.

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